Uns erreichte ein Beitrag der Gruppe, die sich um die Aktionstrainings im Juli und September gekümmert hat. Den veröffentlichen wir gern und hoffen auf mehr Austausch zu diesem Thema.
By the way: Im Vorfeld zur Liebig34-Räumung am 9. Oktober sind noch einige Veranstaltungen, die in die gleiche Kerbe schlagen und die wir allen dringend empfehlen. Es geht zwar um den Naziaufmarsch am 3. Oktober., aber die Aktionsformen überlappen sich: 27.09.2020, 14:30, Kubiz: Rote-Hilfe Workshop zu klassischen Repressionsgeschichten und am 28.09.2020, 18 Uhr, about:blank: Aktionstraining „Wie verhindern wir einen Naziaufmarsch?“
Auswertung Aktionstrainings im Rahmen der Interkiezionale Sommer 2020
Demos, Spontis, Blockaden und Schnitzeljagden – Massenaktionen in der Stadt können sehr vielfältig sein. Die Interkiezionale Vernetzung der bedrohten Projekte und Supporter*innen hat in den letzten Monaten einiges ausprobiert. Dennoch gibt es viele Punkte, an denen wir arbeiten sollten. Um aus den vergangenen Aktionen für die Zukunft theoretisch und auch praktisch zu lernen und auf der Straße unsere Ziele besser durchsetzen zu können, haben wir im Juli und September 2020 zwei Aktionstrainings explizit für die Interkiezionale durchgeführt.
Wir wollten uns dabei gemeinsam auf die anstehenden Räumungen und vor allem auf die Demos und Aktionen drumrum vorbereiten und den Raum öffnen, um über Erfahrungen zu sprechen. Ziel war es, solidarisch handlungsfähig zu sein, um unsere Meinung auf die Straße zu tragen, ohne dabei zum Spielball des polizeilichen Gegenübers zu werden, und dafür einen selbstbewussteren Umgang mit Aktion und Repression zu entwickeln.
Dabei ging es uns einerseits darum, dass wir unsere angemeldeten oder unangemeldeten Demos auch wirklich machen können. Zum anderen wollten wir ein selbstbestimmtes Demonstrieren für alle. Dafür ist es beispielsweise wichtig ein Verständnis dafür zu entwickeln, was um uns herum vorgeht und Aktionen immer als kollektive zu erfahren. Also auch wegzukommen vom „Survival of the fittest“ und mehr auf einander bezogenes Handeln auf der Straße zu üben.
Dafür müssen wir auch in Zukunft im Gespräch zu bleiben. Standards der Interkiezionalen wie öffentliche Planungen und Auswertungen der Aktionen sind ein guter Beitrag dazu. Mit den Aktionstrainings wollten wir die Vollversammlungen und anderen Diskussionsformate um den praktischen Teil erweitern.
Was uns als roter Faden bei den Interkiezionale-Aktionen aufgefallen und was auch Auslöser der Trainings war, ist, dass es in Berlin zu wenig Eigeninitiative auf Demos gibt. Personen kommen, um an der Demo teilzunehmen, aber ohne eigenen Plan, Bezugsgruppe und Absprachen. Das ist nicht nur frustrierend und lähmend. Es kann auch zu gefährlichen Situationen führen, wenn einzelne Handelnde sich nicht auf die geballte Solidarität der sie umgebenden Masse verlassen können oder wenn es zu Durchgriffen der Polizei kommt, auf die wir nicht vorbereitet sind oder die wir nicht verstehen. Daher wollten wir mit unseren Trainings auch immer wieder die Ziele der Polizei in den jeweiligen Situationen (z.B. Auflösen statt Festnahmen, Kessel und Crowdcontrol) erklären.
Wir meinen, dass zentral ist wieder eine Kultur der Bezugsgruppen und Kommunikation untereinander zu etablieren. Für die Praxis bei Aktionen, wie auch für die politische Arbeit sind die Kleingruppen essentiell. Nicht nur die Bildung von Bezugsgruppen für einen bestimmten Zweck sind entscheidend. Diese müssen auch viel stärker in die Planung und Auswertung, und nicht nur in der Durchführung von Aktionen, als gleichberechtigt integriert werden.
Zudem sollten wir alle stets eine gewisse politisch-praktische Meta-Ebene mitdenken und zum Beispiel im Kopf haben, dass Aktionsformen (Demo, Sponti, Fahrraddemo, Blockade usw.) strategisch gewählt sind: Geht es um den Effekt nach Außen (Öffentlichkeit, jeweiliger Adressat oder Interventionsort), Effekt nach innen (Empowerment, Selbstverständigung, Bündnispolitik) oder den Effekt auf die Polizei / Staat z.B. um Kontrollverlust darzustellen? Die Wahl der Mittel (Choreografie vs. Chaos, Ketten vs. Offenheit, Konfrontation vs. PlanB, Durchbruch vs. Ausweichen, Dezentralisierung vs. Großveranstaltung) sollte sich an dem gewünschten Effekt orientieren und nicht (nur) an den von uns favorisierten Mitteln.
1. Out of Control
Im Nachgang zur 2. November-Demo „One struggle one fight“, haben wir das Konzept „Out of Control“ in einer Veranstaltung wieder bekannter gemacht. Ausgangspunkt war, dass Demos kaum noch politische Inhalte transportieren können, weil sich nur noch mit polizeilicher Repression beschäftigt werden muss, worauf viele von denen die auf Demos gehen nicht vorbereitet sind. Der Umgang mit Repression kann geübt werden, aber auch der Umgang mit der Verunmöglichung von Politik durch Polizeibegleitung. „Out of control“ ist eine dezentrale Antwort, die auf mit einander koordinierte handlungsfähige Kleingruppen setzt. Bei unserem ersten Training am 20. Juli haben wir uns vor allem damit beschäftigt.
Out of Control umfasst eine Vielzahl von Aktionsmöglichkeiten und Handlungsformen, um selbstbestimmter und freier von polizeilicher Repression im öffentlichen Raum demonstrieren zu können. Im Jahr 2020 wurden wegen der Corona-Pandemie einige von diesen Lockerungsübungen ausprobiert. Rund um den 1. Mai und einen Tag vor dem Liebig34-Räumungsprozess Anfang Juni gab es beispielsweise mehr oder weniger erfolgreiche Corona-sensible und polizei-nervende Schnitzeljagden. Problempunkte waren hier: Selbstermächtigung der Kleingruppen, Kommunikation und Repression (Platzverweise).
Es ging beim Training um konkrete direkte Aktionen in und rund um Demonstrationen, um für einen Kontrollverlust seitens der Polizei zu sorgen. Bezugnehmend auf die Proteste in HongKong („Seid wie Wasser“) sollte ein Verständis für eine Dynamik erzeugt werden, die Aktionen insbesondere im Rücken der Polizei ermöglicht.
Dazu aus einem Aufruf zu einer Antirepressions-Demo in Hamburg 2007, ein Jahr vor Heiligendamm: „Out of Control ist Ausbruchsstimmung. Wir wollen (…) die Praxis der Spaliere, Auflagen und Wanderkessel durchbrechen. Nicht mit dem Kopf gegen die Wand sondern überall sein, uns zusammenfinden und ebenso schnell zerstreuen. Wir sind immer dort, wo die Bullen mit dem Rücken zu uns stehen. Immer außerhalb von Kesseln und Einschließungen, immer am Rande der restlichen, gleichzeitig weiterlaufenden Demonstration. Immer in Kontakt und Rufweite. Immer versucht, mehr zu werden und Eigendynamik zu entwickeln. Dieses Konzept lebt davon, dass wir mit den Freiräumen, die wir uns aneignen, auch etwas anfangen.“
In Hongkong 2019 ist die Demokratiebewegung etwas lyrischer: „Seid wie Wasser, seid formlos, seid gestaltlos. Wir können fließen, aber wir können auch etwas zerschmettern“ Oder besser: „Wir verzichten auf länger anhaltende Blockaden bestimmter Bereiche und achten darauf, dass wir uns jederzeit mühelos sammeln und wieder zerstreuen können. Damit behält die Bewegung immer ihre Dynamik.“ Die technsichen Voraussetzungen dafür sind übrigens anspruchsvoll und nicht übertragbar.
Out of Control ist also vielfältig und lebt von Eigeninitiative und Vorbereitung. Es geht darum zu verstehen, was um einen herum passiert: Vielleicht gibt es eine Rangelei, wodurch anderswo Freiräume entstehen? Ist die Demo wirklich vorbei oder geht es anderswo weiter? Da ist ein Polizeikessel? Mal sehen, wie lange noch, wenn sich alle drumrum stellen. Es gilt, immer wachsam zu sein, auch spontan um eine kritische Masse zu organisieren und die von der Polizei erstellte Statik durch eigene Dynamik aufzubrechen.
Dies haben wir beim Aktionstraining thematisiert und einige Übungen für konkreten Demosituationen durchegespielt. Insbesondere sollte die Vielfalt der Beteiligungsmöglichkeiten und Verantwortung innerhalb einer Demo sowie ein geschlossenes Demonstrieren (wer gibt die Richtung vor, wer die Geschwindigkeit) geübt werden.
2. Rein in die Offensive
Neben der Dezentralisierung wollen wir gleichzeitig mehr Geschlossenheit. In einem weiteren Training im Rahmen der Actionweek für die Liebig 34 am 7. September 2020 wollten wir konkreter werden, was dezentrale Aktionen sind. Häufig werden hier nur Andeutungen gemacht, Aufrufe verhallen in Fragezeichen, was zu weiterer Unsicherheit und Lähmung führen kann.
Das zweite Training beinhaltete Schlussfolgerungen aus der „Raus-Aus-Der-Defensive-Demo“ sowie der Syndi-Sponti am 7. August. Laut Auswertungs-Vollversammlung der Interkiezionale waren einige Dinge ausbaufähig. Zum einen das kollektive Verhalten auf der Straße, also Verantwortung für sich, für die eigene Bezugsgruppe aber eben auch für die ganze Demonstration zu übernehmen. Zudem müssen wir besser auch in hektischen Situationen zusammenhalten. Wie dies gehen kann, haben wir mittels einer Videoanalyse und einer Praxisübung gezeigt. Hierzu gehört auch, im Umgang mit der Polizei deren konkrete Ziele zu verstehen und zu konterkarieren (z.B. nicht die Zerstreuung der Demo durch Wegrennen zu unterstützen). Die Polizei will Demos kontrollieren, Menschenansammlungen bündeln, umstellen und dadurch statische Situationen erzeugen. Wie lassen sich solche Situationen aufbrechen? Das heißt nicht, der Militarisierung der Polizei ein Wettrüsten entgegenzusetzen, sondern auf Guerillataktiken zu setzen. Und: Wenn 1/3 der Demo wegrennt, müssen wir überlegen, was können diese Personen noch tun und nicht nur die Gekesselten zählen? Welche Möglichkeiten ergeben sich durch die Zerstreuung?
Was (noch) tun?!
Es gab im Rahmen der Aktionstrainings einige Punkte, die immer wieder als Hemmniss aktiv zu werden oder aktiv zu bleiben auftauchten sowie explizite Wünsche nach weiteren Trainings oder Diskussionen.
Zum einen führt staatliche Repression weiterhin zu starken Unsicherheiten . Wir können dies im Rahmen unser Trainings nur unbefriedigend abdecken. Hier wäre es ggf. sinnvoll auf entsprechende Strukturen zuzutreten und Angebote zur Bewältigng der unterschiedlichen Facetten (juristische, soziale, psychologische, technische) auf die Beine zu stellen.
Zum anderen wurde sich gewünscht, eine Kommunikationsstrategie für Demos zu entwickeln, beispielsweise über Handzeichen. Hier könnten ein paar Zeichen, beispielsweise für „Aufschließen“ oder „Ketten“ oder „Achtung Polizei von rechts“ vereinbart werden (ähnlich dem Plenumshandzeichen-Satz > https://diskussionshandzeichen.wordpress.com/materialdownloads/). Insgesamt wurde sich gewünscht, mehr Struktur in die Demos zu bringen, was unserer Meinung nach nicht über Ordner*innen funktionieren kann, sondern alle beherrschen sollten.
Sinnvoll wäre zudem, regelmäßig Bezugsgruppentrainings sowie zur Entscheidungsfindung anzubieten, beispielsweise um Adhoc-Plena oder Konsenfindung zu üben.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Videoanalysen stets gut ankamen und zu wenig Raum in den Trainings hatten. Um eine weitere Beschäftigung mit den Videos zu ermöglichen, listen wir hier die Links zu den Videos auf, auf die wir uns zum Teil stützen. Achtung: Explizite Polizeigewalt ist zu sehen.
Video: Demoauflösung 1.8.
Bullen greifen nur mit wenigen an. Organisierte Reihen vorne und Hinten bleiben stabil. Die Mitte rennt sofort weg. Leute werden alleine gelassen. Den Cops geht es nicht darum, wen festzunehmen in der Situation, sondern ums Auflösen/Auseinandertreiben. (hierzu auch die Videoszene, wo Bullen nur Schubsen und Schleudern). https://twitter.com/i/status/1289813861600653312
Gleiche Szene nochmal von unten gefilmt von RUPTLY. Darin gut zu erkennen, dass die Bullen nur angerannt kommen und ein Teil der Demo sofort abhaut.
https://twitter.com/i/status/1289846957553270786
Video: Gitter Szene Synidkat Räumung 7.8.
Für die Polizei sind Gitter ebenso eine Barriere. Sie springen nicht einfach so rüber, sondern Pfeffern und versuchen Leute zu greifen.
https://twitter.com/i/status/1291754302739030016
Video: Durchbruch Ende Gelände
Relativ schmale Straße. Die Menge ist sehr langsam, gut geschützt gegen Schläge und Pfeffer. Es wird kontinuierlich gedrückt. Kommt nicht auf die Stärke der ersten Reihen an.
https://www.youtube.com/watch?v=aoykjcrsx50 (bei 1:24min)
Video: Durchbruch Blockupy
Sehr enge Stelle zwischen Autos. Aber nur die Hälfte der Personen versucht es da durch. An den Seiten kann der Rest durchschlüpfen. Mittlere Geschwindigkeit und die Kerngruppe bleibt immer zusammen, rennt nicht einfach durch und lässt auch niemanden liegen. Danach geht es für alle weiter.
https://www.youtube.com/watch?v=3oo1LMpSpuY (bei 1:20min)
Video: Durchbruchsversuch Hannover
Demo stoppt vor der Polizei. Insgesamt zu langsam, kann keinen Druck entfallten, weil auch kein Druck von hinten kommt. Kurze Zeit später kommt sehr viel Polizei. Der Überraschungseffekt ist passé.
https://www.youtube.com/watch?v=YsR8ROMnW7A (bei 1:35min)
Sowie Auswertungstexte rund um Out of Control:
Frankreich (2019) https://non.copyriot.com/unsere-sehnsuechte-sorgen-fuer-unruhe/
Dynamische Demos (2019) https://de.indymedia.org/node/29008
Out of Control Konzept (2007) https://de.indymedia.org/2007/12/202523.shtml
Bericht Out of Control Hamburg http://de.indymedia.org/2007/12/202692.shtml
Bericht Kettenkundgebung Fahrraddemo (2010) http://de.indymedia.org/2010/04/279557.shtml
Auswertungstext und Kritik (in Kommentaren) Carlo Giuliani Demo (2011) https://de.indymedia.org/2011/07/312070.shtml
Aktuelle Aktionen:
Sponti George Floyd: http://4sy6ebszykvcv2n6.onion/node/95661
Entsichern Kongress-Demo: https://entsichern.noblogs.org/demonstration/
Erdogan Tag X Sponti: https://de.indymedia.org/node/19278
Konzept Schwarzer Dezember: https://urbanresistance.noblogs.org/aktuelles/fuer-einen-schwarzen-dezember/
Interkiezionale Demo 02.11.2019 https://de.indymedia.org/node/44608
Aufruf 30.4. https://1mai.blackblogs.org/?p=854
Auswertung 1. Mai: https://1mai.blackblogs.org/?p=877
In Bewegung bleiben Aufruf 22.06.2020 https://de.indymedia.org/node/83838
FAQ zur Aktion am 2. Juni: https://1mai.blackblogs.org/
Auswertung der Syndikat Tag-X-Sponti: https://interkiezionale.noblogs.org/post/2020/09/01/auswertung-der-syndikat-tag-x-sponti/
„Raus aus der Defensive“-Demo: taktische Auswertung: https://interkiezionale.noblogs.org/post/2020/08/17/01-08-2020-raus-aus-der-defensive-demo-taktische-auswertung/